Ich hatte also genügend Zeit, mich noch umzuschauen, an was für
eine Küste mich das Schicksal verschlagen hatte. In aller
Herrgottsfrühe sprang ich aus den Federn. Ich durchquerte die
Gärten, ging am Strand entlang, machte mich mit Wasser, Erde und
Luft der Gegend vertraut und pflückte wohlriechende Kräuter, bis
meine Hände nach Bohnenkraut, Salbei und Pfefferminze rochen.
Von einer Anhöhe aus hielt ich Umschau. Die Gegend war herb und
rauh: Granit, dunkle Bäume und Kalkstein von einer Stärke, daß
ihm keine Spitzhacke beikommen zu können schien. Aber plötzlich
krochen aus diesem Boden feine Lilienblüten hervor und funkelten
in der Sonne. Gegen Süden schimmerte rosig in der Ferne ein
niedriges Eiland aus weißem Sand, das unter den ersten
Sonnenstrahlen wie ein junges Mädchen errötete.
Vom Strand weiter ab zogen sich ausgedehnte Weinberge hin,
wuchsen Oliven-, Johannisbrot- und Feigenbäume. Im Windschutz
zweier Hügel lagen Gärten mit wilden Obstbäumen und Mispeln,
näher der Küste zu gab es fruchtbares Gemüseland.
Eine Zeitlang genoß ich von der Anhöhe den Anblick des sanften,
welligen Bodens. In vielen Ringen breiteten sich vor meinen
Augen Granit, die dunkelgrünen Johannisbrotbäume, die
silberblättrigen Oliven wie ein gestreiftes Tigerfell aus.
Dahinter dehnte sich die noch immer bewegte See, endlos und
einsam bis nach Libyen hinunter und brüllte, als wolle sie Kreta
verschlingen.
Diese kretische Landschaft glich einer guten Prosa: klar
durchdacht, nüchtern, frei von Überladenheiten, kräftig und
verhalten. Sie drückte das Wesentliche mit den einfachsten
Mitteln aus. Sie spielte nicht. Sie wandte keine Kunstgriffe an
und blieb jeder Rhetorik fern. Was sie zu sagen hatte, das sagte
sie mit einer gewissen männlichen Strenge. Aber zwischen den
herben Linien dieser kretischen Landschaft entdeckte man eine
Empfindsamkeit und Zartheit, die keiner vermutet hätte - in den
windgeschützten Schluchten dufteten die Zitronen- und
Orangenbäume, und in der Ferne ergoß sich aus dem endlosen Meere
eine grenzenlose Poesie.
"Kreta", murmelte ich, "Kreta", und mein Herz schlug rascher.
Aus dem
Roman 'Alexis Sorbas' von
Nikos Kazantzakis
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